Am 8. Juni 2020 wäre Dr. Richard Hiepe 90 Jahre alt geworden. Ein solch langes Leben war ihm nicht vergönnt.
Er starb im Dezember 1998 im Alter von 68 Jahren. In den aktuellen Diskussionen um engagierte Kunst in der BRD
und über den Umgang mit Kunst aus der DDR fehlt seine Stimme. Es ist Zeit, sein Engagement und seine
wissenschaftlichen Leistungen ins Gedächtnis zurückzurufen. Dr. Peter Michel, langjähriger Chefredakteur der
DDR-Zeitschrift „Bildende Kunst”, erinnert sich an diesen marxistischen Kunstwissenschaftler.
Im Jahr 1998 schrieb ich für die in Essen erscheinende Zeitschrift „Marxistische Blätter” einen
zweiteiligen Beitrag unter dem Titel „Ostkunst – Impressionen und Reflexionen”, der sich mit dem
sogenannten „Bilderstreit” und der Abwertung der in der DDR entstandenen Kunst beschäftigte und
den ich Richard Hiepe widmete. Das Manuskript schickte ich ihm zuvor nach München, um sein Einverständnis für
diese Zueignung zu erhalten. Am 4. September 1998 schrieb er zurück: „… ich habe eine Menge gelernt und
bete (!) nur, dass Du diese Kenntnisse irgendwo in einem größerem Kreis ausdrücken kannst. Aber es ist weiter
abwärts gegangen. Hier merkt man ganz deutlich, dass ‚Drüben’ immer mehr eine Kolonie wird. Kunst und Handel
sind so in den Händen der neuen Machthaber wie früher unter Wilhelm in Afrika. Ich werde in meinen Texten zu
den Graphik-Kreis-Blättern öfters aus Deinen … Beobachtungen zitieren.” Dann erwähnte er nebenbei, er habe
Krebs, müsse sich um Weihnachten an der Hüfte operieren lassen und das sei schlecht für seine Galerie, weil
er sich nun nicht darum kümmern könne.
Weihnachten erlebte er nicht mehr. Drei Monate nach diesem Brief starb er. Meine Frau und ich schrieben am
17. Dezember 1998 seiner Witwe Helga: „Richards Tod hat uns sehr getroffen, und es ist uns
auch klar, dass unsere Anteilnahme für Dich kein Trost sein kann. Wir kannten Richard seit 1975. Er hat für
die Zeitschrift ‚Bildende Kunst’ viele wichtige Beiträge geschrieben. Die enge, freundschaftliche Verbindung
zwischen unseren Zeitschriften war wesentlich von Richards Ideen und seiner Haltung geprägt. … Er hat uns auch
nach 1989 immer wieder Mut gemacht, obwohl er es selbst schwer genug hatte.” An seiner Beisetzung
konnten wir nicht teilnehmen. Freunde informierten uns ausführlich darüber. Guido Zingerl hielt eine bewegende
Abschiedsrede.
Als ich 1975 zum ersten Mal in München war, traf ich Richard Hiepe in der Redaktion der Zeitschrift
„tendenzen”. Er hatte sie um 1960 gegründet und ein Redaktionskollektiv zusammengeführt, zu dem
unter anderen Werner Marschall, Carlo Schellemann, Gabriele Sprigath, Jörg Scherkamp und Guido Zingerl
gehörten. Mich beeindruckte die Herzlichkeit und Offenheit, die dort herrschte. Der Maler, Grafiker und
Bühnenbildner Carlo Schellemann, den ich später gemeinsam mit Willi Sitte auf seinem Bauernhof in
Eggenfelden besuchte und auch anlässlich der Eröffnung einer Ostseebiennale in Rostock wiedertraf, erfüllte
gern meine Bitte und fuhr mit mir zur Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau. Gabriele Sprigath schrieb
Beiträge für die „Bildende Kunst”; die Dokumente ihres Berufsverbotsverfahrens veröffentlichten wir.
Guido Zingerl, der eigenwillige Karikaturist aus Fürstenfeldbruck, gehörte zu unseren guten Freunden und
bereitete uns bei einem Besuch in seinem Haus zu Beginn der Neunzigerjahre einen Empfang, den wir nicht vergessen
werden; er legte eine Schallplatte mit der Nationalhymne der DDR auf und hatte im Garten eine Losung mit den
Worten „Deutschland – einig Flaschenpfand!” angebracht. Zahlreiche Künstler der Gruppe
„tendenzen” hatten es schwer in dieser Alt-Bundesrepublik, in der der Antikommunismus Staatsdoktrin
ist. Sie spürten unsere Solidarität vor 1989, so wie wir nach dem Zusammenbruch der DDR ihre Verbundenheit mit
uns dankbar annahmen. Das war unser Erlebnis deutscher Einheit – fernab der offiziellen Phrasen.
Im Mittelpunkt der „tendenzen”-Gruppe und der Redaktion aber stand bis zu seinem Tod Richard Hiepe. 1930
wurde er in Hamburg geboren. Er studierte Kunstwissenschaften in Hamburg und München, war Leiter der „Neuen
Münchener Galerie” in der Kaulbachstraße und ihres Grafik-Verlages, hatte Lehraufträge für
marxistische Ästhetik, Kunstgeschichte und Geschichte der Fotografie an der Bayerischen Staatslehranstalt für
Fotografie, der Universität Marburg, der Fachhochschule Bielefeld und an der Kunsthochschule Braunschweig.
Ein erstes Berufsverbot ereilte ihn 1972 an der Kunstakademie in München, wo ihm der Lehrauftrag wegen seiner
Kandidatur auf der Landesliste der DKP entzogen wurde. Später geschah ihm das an der Universität
Osnabrück, nachdem seine politische Eignung, geprüft durch das Land Niedersachsen, heftig in Frage gestellt
worden war. Im März 1976 war von allen zuständigen Gremien der Kunsthochschule Braunschweig seine Professur
einstimmig vorgeschlagen worden; das wurde von der CDU-Landesregierung wegen „fehlender Eignung zum
Hochschullehrer” abgelehnt. Richard hatte sich in München an einer antifaschistischen Demonstration gegen
die Gründung der neofaschistischen „Deutschen Volksunion” beteiligt und gehörte der DKP an;
das genügte. Der Ulmer Verein, ein Verband der Kunst- und Kulturwissenschaften, protestierte gegen diese rein
politisch motivierte Ablehnung und wies darauf hin, dass dem internationalen Ansehen der Bundesrepublik durch die
Berufsverbote Schaden zugefügt wird. „Zu stark sind die Erinnerungen an vergangene Verfolgungen von
engagierten Künstlern und Wissenschaftlern”, steht in dieser Resolution, die mehr als hundert Unterschriften
trägt. Eine Reaktion auf diese Erklärung blieb aus. Heute kommen auch uns solche Vorgänge sehr bekannt vor.
Richard Hiepes Hauptarbeitsfeld war die Entwicklung fortschrittlicher Kunst in der BRD; er untersuchte in seinen
Schriften, wie unter kapitalistischen Bedingungen ein oppositionelles kunstpolitisches und kunstwissenschaftliches
Bewusstsein entsteht und polemisierte gegen die Zweifel am gesellschaftlichen Wert der Kunst, gegen die Geschichts-
und Inhaltslosigkeit bildnerischer Gestaltung. Im Vorwort seines Buches „Die Taube in der Hand” schrieb
er über die Perspektivlosigkeit, die Ohnmacht und Geschlagenheit des Menschenbildes, über extreme Formen
ästhetischer Isoliertheit in der westdeutschen Kunst der Siebzigerjahre. „Dabei reicht die Skala heute
vom Kult mit sinnfreien Formen und Materialien, von Antikunst, die sich in Aktionen und Schauspielereien erschöpft,
bis zu den Abbildern tiefster Verzweiflung und Depression, künstlicher Rauschzustände oder sektenhafter
Erlösungsillusionen.” Dem stellte er sehr bewusst nicht nur seine theoretischen Positionen, sondern auch
die praktische Arbeit des Grafikkreises seiner „Neuen Münchner Galerie” entgegen, dessen Bestand
für ein neues Sammlerpublikum bestimmt war, das die elitären Preis- und Stilmoden der herrschenden Kunstszene
ablehnte. Sein Angebot umfasste ein breites Spektrum realistischer und engagierter Kunst – von Auflagendrucken
des Jugendstils über gesellschaftskritische Grafik der Zwanziger- und Dreißigerjahre bis zu Arbeiten
gegenwärtiger Künstler. Auch Grafiken aus der DDR lagen dort bereit.
Wichtig waren vor allem seine Schriften zur Arbeiterfotografie, seine Katalogtexte – zum Beispiel über Karl
Hubbuch, den er aus der Vergessenheit holte und in eine Reihe mit George Grosz, Rudolf Schlichter, Christian Schad
und Käthe Kollwitz stellte, oder über den Zeichner und Maler Helmut Goettl, der ebenso zu den wichtigsten
Vertretern einer gesellschaftskritischen Kunst der Nachkriegszeit gehört. Über Jörg Scherkamp, den
Redaktionskollegen, der mit seinen geometrisch-kubistischen, oft scherenschnittartigen Formen und symbolhaften Figuren
dennoch Realist war, schrieb Richard, er sei „weit aus dem in unserer Kunstgeschichte entwickelten Realismusbegriff
ausgebrochen, ohne dessen Inhalte preiszugeben”. Solch differenziertes Hineindenken in künstlerisches Schaffen
und gesellschaftliches Wirken war typisch für ihn. Er konnte seine Zuhörer mitreißen, trat mutig und
überzeugend auf und erwarb sich damit die ungeteilte Achtung vieler Studenten, Künstler und Wissenschaftler.
1973 erschien von Hiepe ein Band über die sozialistische Kunst in der Sowjetunion, in Mexiko und Kuba, in der
VR China und Nord-Vietnam, in der Weimarer Republik, in der DDR und in der Bundesrepublik.
1966 hatte der Verband Bildender Künstler schon einmal eine Ausstellung der Gruppe „tendenzen” und ihr
nahe stehender Künstler in der DDR gezeigt, auf der 17 Teilnehmer ihre Werke präsentierten. Zehn Jahre später
organisierte der Verband eine Wanderausstellung „Progressive Kunst – Künstler aus der BRD stellen aus” in
Karl-Marx-Stadt, in Weimar und Berlin. Richard Hiepe gehörte zu ihren Initiatoren und schrieb für den umfangreichen
Katalog das Vorwort. Nun waren es 107 Maler, Grafiker, Zeichner, Karikaturisten und Bildhauer, die sich um die
„tendenzen” versammelt hatten. Ihre weltanschaulichen Positionen waren unterschiedlich, doch sie
einte das Streben nach Frieden und die konsequente Ablehnung faschistischer oder neofaschistischer Umtriebe.
Die jahrelange unbeirrte Arbeit Richard Hiepes und seiner Freunde hatte reiche Früchte getragen. Unter den
Ausstellenden waren Gertrude Degenhardt, der Grafiker HAP Grieshaber, die Bildhauer Richard Heß, Christian Höpfner,
Waldemar Otto und Jürgen Weber, der exzellente Zeichner Horst Janssen, Hans Platschek, der mir 1985 sein Taschenbuch
„Über die Dummheit in der Malerei” mit einer herzlichen Widmung schenkte, und der Nürnberger Grafiker
Michael Matthias Prechtl. Der Bildhauer Clemens Maximilian Strugalla zeigte unter anderem einen Porträtkopf des
sterbenden Pablo Neruda. Als die Ausstellung 1976 in Karl-Marx-Stadt eröffnet wurde, erlebte ich zum ersten Mal
hautnah das arrogante, anmaßende Auftreten westdeutscher Medienvertreter, die hämisch und herabsetzend über diese
großartige Schau berichteten.
Die Zeitschrift „tendenzen” existierte 30 Jahre lang. Es erschienen an die 180 Hefte. Eines der letzten
beschäftigte sich intensiv und kritisch mit der zehnten Kunstausstellung der DDR in Dresden und enthielt die neugierige
Erwartung auf eine elfte. Diese Hoffnung ging nicht auf. Mit der „Wende” endete die Tradition dieser
Ausstellungen ebenso wie die Existenz der Zeitschriften „Bildende Kunst” und „tendenzen”.
Noch vor seinem Tod saßen wir in Richards Galerie zusammen und überlegten, wie es weitergehen könnte. Uns schwebte
ein neues gesamtdeutsches Periodikum vor, das die Erfahrungen und die Autoren beider Zeitschriften zusammenführen und
offen sein sollte für alle Formen engagierter Kunst – nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und in der Welt. Es
sollte sich deutlich unterscheiden von den Zeitschriften „Weltkunst” und „art” mit ihren
Orientierungen auf den Antiquitätenhandel und den aktuellen Kunstkommerz. Richard schlug dafür den Titel
„L'art engagé” vor, um die Internationalität zu betonen. Doch das blieb ein schöner Traum.